Michael Ruge: BORDSTEINKÖNIG – MEINE WILDE JUGEND AUF ST. PAULI
„Ich hatte gute Laune. Immer, wenn ich in den Straßen von St. Pauli unterwegs war, hatte ich gute Laune. Der Himmel über mir, der Asphalt unter mir. Die Häuser, die Menschen, der Geruch: St. Pauli, meine Freiheit. Ich sah die Menschen an den Bus- und Bahnhaltestellen. Die traurigen Gesichter, in denen sich die Ödnis ihres Lebens festgeschrieben hatte, machten mir Angst. Angst, dass mir auch solch ein Leben drohen könnte. Morgens: aufstehen, dann malochen. Abends: vor dem Fernseher mit einem Bier, dann ins Bett. Am nächsten Morgen wieder der selbe Stuss. Das ganze Leben lang. (…) Wenn das Leben dann in Windeseile an einem vorbeigelaufen ist, sind’s am Ende Verachtung und Krankheit, die einen am Leben halten. (…) Bis endlich der Deckel zufällt. Dann wird’s dunkel; und das Einzige, was man bereut, ist, was man versäumt hat im Leben.“ Seine Jugend, die Michael Ruge in seinem autobiografischen Buch beschreibt, ist alles andere als die eines solchen Normalbürgers. Er wächst als Außenseiter auf. Er wächst in einer anderen Welt auf, der Welt von Gangs und schillernden Zuhältern. Dem St. Pauli der 80er Jahre.
„Aber ab und zu ließ ich mich doch in der Schule blicken. Bei den Normalbürgern. Denn für die war die Schule. Dort wurden die Normalbürger auf ihr normales Leben vorbereitet. Jungs wie ich lernten auf der Straße. Das Leben war unsere Schule.“ Diese Schule beinhaltete es für Michel und seine Freunde, Grenzen auszutesten und Grenzen zu überschreiten. „Ohne Grenzen spürt man nicht, dass man lebt. Wir wollten Grenzen verschieben, über die Grenzen hinaus, bis keine Grenze mehr zu sehen war und wir mitten im Nichts, haltlos, ohne Horizont, schwindelig, ohne Ziel neue Grenzen suchend.“ Manche seiner Freunde verlieren sich in diesem Nichts, in Drogen und Gewaltexzessen. Michael Ruge entfremdet sich im Laufe des Buches immer weiter von dieser seiner Welt und führt heute ein „normales“ Leben, verdient sein Geld mit Anti-Gewalt-Beratung und schreibt Bücher. Vielleicht, weil er mit einer Welt ohne Grenzen nicht zurecht gekommen ist. Vielleicht auch, weil sich die Welt von St. Pauli verändert hat. Auftragsmorde im Milieu, Drogen, Verfall des Zusammenhalts und Zugehörigkeitsgefühl in den Gangs; Grenzen haben sich verschoben. „Damals veränderte sich alles auf St. Pauli. Der Kiez wurde wahnsinniger, der Wahnsinn wurde wahnsinniger. Was aber blieb: Der Kiez war eine eigene Welt, mit eigenen Gesetzen. Und ich war ein Kind dieser Welt. Dies ist die Geschichte dieser Welt. Es ist meine Geschichte.“
Es ist eine Geschichte über Zuhälterei und exzessive Gewalt, genauso wie über Zusammenhalt, Identität, Freundschaft, Freiheit und eine Welt außerhalb des Normalbürgertums. Zwei Seiten einer Medaille. Eine Geschichte über die Suche nach Grenzen und das Scheitern. Eine Geschichte die fasziniert und Fragen hinterlässt. Eine Geschichte über das St. Pauli der 80er Jahre.