Ultras in Frankreich
Vor einiger Zeit haben wir in unseren Räumen an einem Abend die französische Ultras-Szene thematisiert. Zur Vorbereitung hatten wir Hintergrundgespräche mit unseren Freunden in Bordeaux und einem Kenner der Pariser-Szene geführt. Wir haben jetzt unsere Notizen verschriftlicht, um auch Euch einen kleinen Einblick in die französische Szene zu bieten. Die Gespräche sind schon eine Weile her und das ein oder andere ist inzwischen vielleicht überholt. Für Kenner dürfte der Text außerdem nicht viel Neues bieten. Für den Rest taugt der Text hoffentlich als erster Überblick und Appetit-Anreger.
Die französische Szene allgemein ist an dem Vorbild Italien orientiert, hat über die Jahre aber einen eigenen, unverwechselbaren Stil entwickelt. Vorreiter waren die Boulogne Boys Paris 1985, die Ultramarines Bordeaux 1987, die Brigade Sud Nizza 1985 sowie Commando Ultra Marseille 1984. Auch wenn große Repression der Szene ziemlich zu schaffen macht, ist sie den deutschen Gruppen um einige Jahre voraus. Als typisch französisch kann man aufwendige Choreos, viele Doppelhalter und Fahnen, Pyro und große, in den Kurven akzeptierte und respektierte Gruppen bezeichnen, bei denen alles auf sympathische Art und Weise chaotisch und unorganisiert abläuft. In vielen französischen Stadien gibt es in zwei Kurven Gruppen. Auswärts sind die französischen Fans allgemein nicht in großen Zahlen präsent. Wenn, sind es meist die Ultras, die in überschaubaren Zahlen die Gästeblöcke füllen. Bei Heimspielen führen die Ultras die Kurven und nutzen dabei oft Lautsprecheranlagen. Oft werden die melodischen Lieder mit eher wenig Text vergleichsweise schnell gesungen. Beim Stil der Gruppen kann man auch regionale Unterschiede ausmachen: als (herausragende) Beispiele für südliche Gruppen sind Nizza und Marseille zu nennen.
Vor allem das CU’84 aus Marseille hat einen legendären Ruf, aber auch die ebenfalls auf der Virage Sud stehende South Winners 1987 sowie die Gruppen aus der Virage Nord (Dodgers, Marseille Trop Puissant (MTP), Fanatics, Yankee) sind bekannte und respektierte Gruppen. Markenzeichen der South Winners ist das sich von den blau-weißen Vereinsfarben abhebende Orange, das sich in ihrem Material und bei den charakteristischen umgedrehten Bomber-Jacken wiederfindet. CU’84 pflegt Freundschaften zu den verschiedensten Gruppen in ganz Europa. Die Szene in Marseille, einer migrantisch geprägten Hafenstadt, ist antifaschistisch. Leider ist Marseille heute nur noch ein Schatten seiner selbst. Kommerzielle Interessen der Gruppen haben der Szene sehr geschadet. Auch zu Hochzeiten ist man allerdings nicht an Paris herangekommen, das in jeglicher Form eine Sonderrolle einnimmt. C’est Paris.
Die Pariser Szene war immer in jeglicher Hinsicht herausragend. Die 1985 gegründeten Boulogne Boys aus dem Kop of Boulogne gehörten zu den ersten französischen Ultras-Gruppen. Sie waren was den Stil angeht sehr englisch orientiert und politisch klar rechts positioniert. Seit der Entstehung der migrantisch geprägter Virage Auteuil 1991 war der Kop deswegen auch im ständigen Konflikt mit der Auteuil. Im November 2006 wird ein Julien aus dem Kop von einem Zivilpolizisten erschossen, als eine Gruppe aus dem Kop aus antisemitischen Motiven Fans von Hapoel Tel Aviv nach einem Europacup-Heimspiel jagen. Die Boulogne Boys wurden am 28.03.2008 wegen eines beleidigenden und rassistischen Spruchbandes verboten. In Anlehnung an den Film „Willkommen bei den Ch’tis“ zeigten sie im Liga-Cup-Finale gegen den RC Lens aus dem französischen Norden „Pédophiles, chômeurs, consanguins: Bienvenue chez les Ch’tis“ („Pädophile, Arbeitslose, Inzucht, Willkommen bei den Ch’tis“; Ch’tis ist eine beleidigende Bezeichnung der Bewohner des französischen Nordens). Danach waren die Boulogne Boys mit Zaunfahne ohne Schrift weiter präsent. Es haben sich auch zwei Nachfolgegruppen gegründet. Neben vielen unabhängigen Ultras und Hooligans (sogenannte Independents) stand auch die Hooligan-Gruppe Cassual Firm Paris im Kop, deren Anführer Yann bei einem Angriff auf die Auteuil im Jahr 2010 tödlich verletzt wurde. Dieser Vorfall war auch Auslöser für das Verbot mehrere Gruppen aus der Virage Auteuil.
Hier hatte sich seit der Entstehung der Kurve 1991 mit den Supras Auteuil 1991, Lutèce Falco 1991, Tigris Mystic 1993, Authentiks (ATKS) und Grinta mehrere Gruppen gegründet. Was Mitgliederzahlen, Tifo, Choreographien oder Militanz angeht, wäre jede dieser Gruppen alleine bemerkenswert gewesen. In der Virage Auteuil arbeiteten sie mal mehr, mal weniger zusammen oder zogen ihr eigenes Programm durch. Als sich die Angriffe durch den Kop auf Tigris Mystic konzentrierten, hielten sich die anderen Gruppen der VA aus dem Konflikt heraus. Im Juli 2006 löste sich Tigris Mystic schließlich nach dem sich immer mehr zuspitzenden Konflikt mit Boulogne auf. Diese suchten daraufhin weiter den Konflikt mit den verbliebenen Gruppen der VA. Dieser Konflikt gipfelte in dem schon erwähnten Angriff auf die Auteuil, bei dessen Abwehr der Anführer der Cassual Firm tödlich verletzt wurde. Daraufhin wurden Supras, ATKS und Grinta verboten. Die französischen Gruppen sind als Vereinigungen ähnlich unserer „eingetragenen Vereine“ organisiert. Ein Verbot stellt jegliche Organisation im Rahmen dieser Vereinigungen sowie das Tragen von Namen oder Symbolen der Gruppen unter schwere Strafe. Im Anhang findet Ihr Auszüge aus einem Text, den wir damals zu den Verboten veröffentlicht haben. Auch in Bezug auf Repression nimmt Paris einen Sonderfall ein. Hier wird das Verbot mit am strengsten überwacht und auch der Verein arbeitet gegen die organisierten Fans. Allen Jahreskartenbesitzern wurde die Jahreskarte gekündigt. Es ist seit dieser Zeit in Paris nicht mehr möglich, zusammenhängende Plätze für mehr als vier Personen zu kaufen oder die Kurve zu wählen. Unter den Vorzeichen des Konflikts mit dem Kop macht dies ein organisiertes Auftreten unmöglich. Die organisierten Strukturen sind in den letzten Jahren zusammengebrochen. Mit P.U.C. Paname United Colors wurde versucht, Teile von Supras, Grinta und ATKS zu organisieren. Mit Liberte pour les Abonements hat sich eine weitere Initiative gegründet, die sich für die Rechte der gekündigten Jahreskartenbesitzer engagiert. Bei einigen Auswärtsspielen ist die Szene noch aufgetreten. Zwei ehemalige Sektionen der Supras fahren noch zu PSG. Bei den meisten Spielen ist das Publikum vollkommen ausgetauscht. Klassische Fußball-Atmosphäre findet in Paris nicht mehr statt. Außerhalb des harten Kerns sind so gut wie alle Leute weggebrochen. Der Kern beschränkt sich auf Besuche bei den Freunden in Köln und existiert im wesentlichen noch als Freundeskreise.
Die Brigade Sud aus der Mittelmeer-Stadt Nizza konnte mit dieser schwerwiegenden Situation des Gruppenverbots besser umgehen, da hier der Verein nicht derart gegen die Fans arbeitet und in Nizza keine derartigen Konflikte mit anderen Gruppen bestehen. Auch in Nizza ist die Organisation als BSN oder das tragen der Logos oder Schriftzüge verboten. Die Szene war aber weiter präsent und hat sich mittlerweile als Ultras Populaire Sud Nice neu gegründet. In der Kurve finden sich Fahnen mit der Aufschrift 1985, dem Gründungsjahr der BSN, die das Verbot auf diese Art umgeht. Es bleibt zu hoffen, dass der Niedergang der Pariser Szene ein trauriger Einzelfall bleibt. Da Damoklesschwert Gruppenverbot schwebt allerdings über allen französischen Gruppen und auch der Trend, überall neue, moderne und „sichere“ Stadien zu bauen, macht der französischen Szene zu schaffen.
Gruppen von großen Vereinen:
Paris Saint Germain
Kop of Boulogne:
-Boulogne Boys 1985 (2008 verboten, danach mit Zaunfahne ohne Schrift weiter präsent, zwei Nachfolgegruppen)
-Cassual Firm Paris
-viele Independent Ultras und Hooligans
Virage Auteuil:
-Tigris Mystic 1993 (2006 aufgelöst)
-Supras Auteuil 1991 (2010 verboten)
-Lutèce Falco 1991 (seit 2010 nicht mehr präsent)
-ATKS Authentiks 2002 (2010 verboten)
-Grinta 2009 (2010 verboten)
-Karsud
-P.U.C. Paname United Colors
-Liberte pour les Abonements
Saint Etienne
-Magic Fans 1991
-Green Angels 1992
Olympique Marseille
Virage Sud:
-Commando Ultra 1984
-South Winners 1987
Virage Nord:
-Dodgers Marseille 1992
-MTP Marseille Trop Puissant 1994
-Fanatics 1988
-Yankee Nord Marseille 1987
Bordeaux
-Ultramarines Bordeaux 1987
-Devils Bordeaux 1990 (aufgelöst)
Olympique Lyon
-Bad Gones 1987
-Cosa Nostra Lyon (2010 verboten, tritt unter Lyon 1950 wieder auf)
Nizza
-Brigade Sud 1985 (2010 verboten, tritt unter Ultras Tribune Popolair Nice wieder auf)
-Armata Rumpatata
HSC Montpellier
-Butte Paillade 1991 (2010 verboten)
-Armata Ultras (2010 verboten)
Metz
-Faction Metz (2008 verboten)
-Generation Grenat 1995
-Horda Frenetik Metz
Nantes
-Brigade Loire
Freundschaften mit deutschen Gruppen:
Supras und ATKS mit Wilde Horde Köln und Coloniacs
Kop of Boulogne mit den Hooligans von Kaiserslautern
Horda Frenetik Metz mit Frenetic Youth und Generation Luzifer Kaiserslautern
Generation Grenat Metz mit Trier
Magic Fans Saint Etienne mit Commando Cannstatt
Ultra Boys Straßburg mit Phönix Sons Karlsruhe und Harlekins Berlin
Nancy mit Virage Est Saarbrücken und Ultras Düsseldorf
Ultramarines Bordeaux mit Deviants Münster und Schickeria München
Anmerkung dazu: Die Konstellation der Freundschaften in Metz zwischen den unter anderem aus politischen Gründen (Horda ist links, die Kurve Grenat rechts) verfeindeten Gruppen mit Trier und Kaiserslautern, die sich aufgrund der lokalen Nähe auch nicht gerade mögen, sowie der Freundschaft der rechten Hools aus Kaiserslautern mit dem rechten Kop, ist ziemlich komplex und sorgt immer wieder für Zwischenfälle in Metz und Kaiserslautern.
Immer wieder interessante Infos für Französischsprachige:
www.mouvement-ultra.fr
Mehr Hintergründe:
Interview mit einer Sektion der South Winners Marseille von USP
Auszug aus einem Interview mit den Ultramarines Bordeaux